19. Ein Wunder von einem Abenteuer inmitten eines Abenteuers

Weltwunder, ganz bescheiden

Wolfgang Herrndorf Arbeit und Struktur. Auch beim Wiederlesen groß und bewegend. Schrecklich natürlich, dass einer erst sterbenskrank werden muss, bevor er zu einem produktiven (druckbedingt hastigeren, oberflächlicheren) Schreibtempo findet. Bestätigt natürlich das hoffentlich falsche Vorurteil, dass nur große persönliche Tragik große Kunst hervorzubringen imstande ist. Dass er Tschick schon unter dem Bewusstsein seines Todesurteils geschrieben/fertiggestellt hat, hatte ich schon wieder verdrängt.

Die ISOBEL (Bildmitte) in der Marina von Vila Real de Santo Antonio (Rio Guardiana)
Foto: unbekannter Drohnenpilot im Hafen

Sa., 22.10., Guerreros de Rio (Guadiana). Der Fluss bildet die Grenze zwischen Spanien und Portugal, wir sind auf der portugiesischen Seite, aber selbstverständlich hat das roaming-info meines Telefonanbieters eine SMS nach der anderen geschickt. Die Grenze zwischen den Ländern ist leicht zu erkennen. Portugiesische Seite: Olivenhaine, Pinien – Toskana. Spanische Seite: Bettenburgen, Ferienwohnungsblöcke, teils noch (seit Jahren) im Rohbau: Benidorm. Wir liegen an einem Schwimmsteg, nicht wie geplant an einer Muringboje oder vor Anker, alles einfacher, vor allem für Hund SlowMo („Slow Motion“). Lukas hat den Anleger gefahren, alles easy.
Überhaupt läuft es supergut mit den beiden, lieb und nett und rücksichtsvoll und superinteressiert. Wollen alles lernen, wollen alles selber machen. Herrliches Skipperleben: Ansagen absetzen, der Rest ist Entspannung.

Schöne junge Menschen vor schöner alter Landschaft: das muss wohl Glück sein.
Bittersüßer Tee

In Lagos war ich mit dem Weltumsegler des Nachbarbootes ins Gespräch gekommen. Erik, Schwede, hat zurzeit seine Frau an Bord, aber lange Strecken segelt sie nicht mit. Gerne teilt er seine Erfahrungen mit mir, zeigt mir sein Sturmsegel (allererste Qualität, 30 Jahre alt), das er gerne loswerden möchte, für einen Spottpreis, leider passt es nicht ans Babystag der Lizzy, schenkt mir wertvolle Bücher (Bootsreparaturen (auf schwedisch), Atlantikinseln, Atlantikkarte) und erklärt sich bereit, mich in die tieferen Ebenen von Navionics einzuführen, das er selbst auch benutzt. Ich lade ihn auf einen Tee zu mir herüber ein. Er nimmt Zucker. Ich reiche ihm das ehemalige Marmeladenglas mit dem braunen Pulver. Was das sei? – Ich: Brauner Zucker, trinken die jungen Leute heutzutage, schmeckt malziger, aber gut. Erik ist einverstanden. Über Navionics lerne ich Aufschlussreiches, Gezeiten- und Satellitendarstellung bei hoher Auflösung. Nur seinen Tee trinkt er irgendwie nicht. Als wir durch sind (Ich: Will er seinen Tee mitnehmen?) würgt er ihn (wie ich jetzt weiß) dankend hinunter: Ich hab die Gläschen verwechselt und ihm Nesquik angeboten. Erik, falls du das liest: Es tut mir schrecklich leid. Und ist mir peinlich. Wieder einmal bewahrheitet sich Regel 8: Arroganz (»Das trinkt man heutzutage so!«) ist die Wurzel allen Übels.

Tatsächlich am Dienstag (18.10.) abends noch Julian und Lukas an Bord genommen, Sicherheitseinweisung, Kojenzuteilung, Betten überziehen etc. Julian kocht Salat und Nudeln mit Tomatensoße (mit Gemüse aufgepeppt). Mittwoch Morgen (Mittag) los. Die Jungs sind nicht nur süß, sondern total geflasht – für die geht ein Traum in Erfüllung. Video? Guckst du: Ab Lagos https://youtu.be/HO4AZqRm8V8

Und irgendwie ist dieser jugendliche Enthusiasmus auch ansteckend. Die Sandsteinfelsen an der Punta de Piedade bei der Ausfahrt noch einmal aus der Nähe fotografiert (den Touristen oben auf den Felsen zugewunken (zugejubelt: »Alegría!«) und ihren (imaginierten) Neid genossen. Dann ab Richtung Vilamoura. Entspannter Segeltag, ordentlich Wellen, guter Wind, lebhafter Halbwindkurs. Die Jungs schwärmen und bedanken sich bei mir gefühlt jede halbe Stunde (und wollen mich abends drücken, ist inzwischen fast schon Ritual geworden). Vilamoura ist ein Retortenressort, Luxusmotoryachten am besten Pier, wir weiter hinten auf den billigen Plätzen (und unsere Zugangskarte passt auch nur auf unseren Pier – ausgefuchst). Riesenhotel (Tivoli) in der Einfahrt, Hafen gesäumt von Fressbuden aller Nationalitäten. Aber vor allem Engländer. Riesenpavillon am Strand, Sektempfang, Dinner am Pool, schöngemachte Menschen in leichten Kleidchen, mit Blumen im Haar: Height Ashbury (San Franzisko 1969) für pauschal (Bus vom Flughafen, am Eingang warten schon die Kellner mit den gefüllten Tabletts). Dennoch einen Tag geblieben: Es schüttet wie aus Kübeln, keine Besserung in Sicht. Schreib- und Videoschnitt-Tag. Freitag einigermaßen früh (10:30h) wieder los, ewig lang auf die Landzunge vor Faro zugefahren, danach Gennaker rausgeholt und auch die Sonne zeigt sich kurz: die Jungs im Glück (und mir geht’s auch gut).

Julian and Jenny have fun

Die Strecke ist zu lang geplant, wir kommen in die Dunkelheit (finden die Jungs spannend, sind andererseits super motiviert und checken alles, ich kann mich sogar ein Stündchen hinlegen!), die anvisierten Koordinaten vor der Einfahrt nach Vila Real de Santo António erreichen wir um halb zwölf in der Nacht. Flussmündung des Rio Guardiana nicht ganz übersichtlich und nicht eng betonnt. Vor der Einfahrt in die Stadtmarina steht die Tidenströmung stark, aber alles geht gut. Halb eins sind wir da, der Papa geht schlafen, die Kids treiben sich noch bis vier Uhr in der Früh im Städtchen herum.

Heute (Sa., 22.10.) steht der Wind exakt in den Fluss hinein (und hinauf), also segeln wir, nur unter Genua, betörend schön und entspannt, den Guadiana hinauf und machen am Steg fest, den uns der freundliche Engländer (und Hundebesitzer: Kunstrasen als Pissplatz) und Nachbar am Steg in Vila Real empfohlen hat. Kaffee direkt am Anleger, Bar del Rio, die auch extrazuverlässiges WiFi hat.

Vila Real de Santo Antonio. Die LISBETH liegt ganz unten am äußeren Steg.

Wieder ein wunderschöner Tag, wieder umarmen wir uns, weil die Jungs ihr Glück nicht fassen können (sich andererseits als Glücksbringer anbieten und verkaufen wollen – tatsächlich haben sie den Charme, die Ausstrahlung und das Selbstbewusstsein dazu). 

Jeder Tag ein Abenteuer

… wird (vielleicht) der Titel des Reiseberichts, den Julian schreibt. Seine Erlebnisse zu notieren hatte er sich schön länger vorgenommen und hat hier auf der Liz angefangen zu schreiben …
Tatsächlich haben die beiden mit ihren 24 bzw. 25 Jahren schon viel zu erzählen. Julian (Typ Jonny Depp), Zimmermann, war ein paar Monate auf La Gomera und ein Jahr in Australien auf der Walz bzw. hat work&travel gemacht (und im Unterschied zu vielen anderen tatsächlich als Zimmermann gearbeitet), ist viel in Europa herumgereist und jetzt seit mehreren Monaten unterwegs. Lukas (Bilderbuch-Freak, blonde Locks bis zur Brust, leuchtend graue Augen, Zauselbart, sehnig und großgewachsen), Maschinenbauer, hat schon als Schüler angefangen, Oldtimer (Autos und Motorräder) zu restaurieren und sich damit finanziert, auch eine größere Werkstatt betrieben. Mit seinem VW-Bully ist er ab Genua die Südküste Europas entlanggefahren, hat jeden Strand abgeklappert und ist schließlich in Portugal auf dem Campo (Pampa) auf einem eigenen Stück Land inkl. selbstgebautem Haus und Lehm-Iglu (mit Waschmaschinentüren als Fenster) gelandet (sesshaft ist er nicht geworden). Seinen (ersten) Jugendtraum, einen 1956er Magirus-Deutz Laster mit Kastenaufbau („Grummel“) hat er sich bereits erfüllt und war damit unterwegs bis in Marokko.

Er ist nach der Schulzeit und (abgekürztem) Militärdienst (Lastwagenführerschein!) seit mehreren Jahren unterwegs. Die beiden sehen sich, völlig nachvollziehbar, als Glückspilze und auch Glücksbringer – bis jetzt kann ich das nur bestätigen.

Gestern (Sa, 22.10.), nachdem wir den Guadiana mit perfektem Wind und schiebendem Tidenstrom heraufgesegelt sind, 10 Meilen ins Land hinein auch endlich die vielen Yachten gesehen haben, die hier vor Anker oder Muringbojen liegen sollen (ich bin aus sentimentalen Gründen hier, weil ich den Ort sehen wollte, an dem ich beinahe meine erste Moody erstanden hätte (Danke Nacho, Danke Perico)), gestern jedenfalls, wir liegen an einem Steg mit nettem Hafencafé (Guerreros de Rio) und haben den Nachmittag frei, der fiese Platzregen hat sich zum Glück verzogen, übt im Dorf einer lautstark Dudelsack. Muss sicher ein Schotte sein, wie der Typ mit dem ich vor zwei Jahren über die Moody verhandelt habe – am Telefon, hab ihn nie kennengelernt.
Kaum zwei Stunden später, ich sitze hinten unten in der Achterkabine und tippe, da werden die Jungs von einem Mann angesprochen (»Ist das nicht eine Moody 37?«) und in ein Gespräch gezogen. Er ist der Mann mit dem Dudelsack, der Schotte. Aufgescheucht klettere ich aus meinem Kabuff: kennt er nicht etwa (»Schotten kennen sich doch!«) Scot, den anderen Schotten, der hier irgendwo leben muss? Er kennt einen Scot, weiß dessen Nachnamen aber nicht. Wäre wohl auch ein Zufall zuviel gewesen. Lukas war gerade dabei, nach Yachten zu googeln, die zu verkaufen sind und findet auf Apollo Duck tatsächlich ein Boot (JASSEMINE), das wir kurz zuvor im Fluss verankert umkreist und bewundert haben. Komplett ausgerüstet für die Langfahrt und gar nicht unerschwinglich. Aufgeregte SMS-Kontaktaufnahme. Tatsächlich, der Besitzer antwortet, ist zwar nicht im Land, aber ein Freund von ihm schon … long story short: heute vormittag haben die Jungs einen Besichtigungstermin mit klaren Anweisungen („no starting the engine, no hoisting the sails„) auf dem zum Verkauf stehenden Boot, das sie sich sogar leisten könnten! Der Freund, der uns (ich bin eingeladen, mitzubesichtigen) gleich abholen wird, ist … der dudelsackdudelnde Schotte! Wer auch sonst, wenn Julian und Lukas ihre magischen Glückfinger im Spiel haben? – Nach vier Tagen Segeln (auf der Elli) und sieben Tage, nachdem sie ihren Traum (über den Atlantik und in die Karibik) zum ersten Mal angesprochen haben. Wie als Krönung ihrer Erlebnisse: zehn Tagen zuvor in Sines gestartet, innerhalb von fünf Minuten (am Hafen) einen Hitch nach Sagres (Mitsegeln auf dem Boot eines Holländers) klargemacht, (nach Lagos zu Fuß gewandert) und dort, fünf Minuten nach ihrer Ankunft, mich reinfahren sehen und angesprochen. Si non é vero, é buon trovato! [Falls es (die Geschichte) nicht wahr ist, ist sie gut erfunden]. Und jetzt also sogar das eigene Boot in Griffweite – nicht zu fassen!

Der Dudelsackschotte war es am Ende doch nicht, der um zehn an den Steg kam und sein Dinghy ausschöpfte, sondern ein anderer Andy (der allerdings meinen Scot kannte und versprach, ihm Grüße auszurichten). Die Yacht JASSEMINE besichtigt (fünfzig Jahre alt, komplett ausgerüstet (ist schon um die Welt gesegelt), gut in Schuss, aber vor allem: riecht (im Inneren) gut). Die Jungs sind in Verkaufsverhandlungen und haben bereits ein Gegenangebot gemacht. Wahnsinn. Mit Paula telefoniert. Jetzt noch Strecke für heute Nachmittag abchecken, Vorleine betakeln, Bilge ausschöpfen (Milch ausgelaufen). Um vier soll es losgehen, Richtung Cadiz.