8. Französische Nordseeküste

Gegen den Wind – aber in schön. 

Samstag, 14. Mai, der beste Tag bis dahin (für mich)

Beispielbild

Wenn wir die Tidenströmung ausnützen wollen, müssen wir früh los, hat uns der freundliche Hafenmeister Francis in Zeebrugge beraten. Also im Morgengrauen losgefahren, wir wollten Land gewinnen (darf man das überhaupt noch sagen, wenn Krieg herscht?) Nina und ich wollten jedenfalls möglichst weit vorankommen. 06:45 abgelegt, die ewig lange Hafenausfahrt raus motort, Zeebrügge ist der zweitgrößte Hafen Belgiens. Draußen bläst es etwas mehr. Wind Bf 1-2, SW, Kurs 280°, also ziemlich genau gegenan. Die Elizabeth nimmt die wenigen Wellen gutmütig. Bei bestem Segelwetter (Sonne, Wind, kaum Wellen) enorm Fahrt gemacht. 09:00 Blankenberge passiert, Nina ist nicht ganz so begeistert wie ich, mittags lassen wir es genug sein. Nachmittags 14:55 in der Mercator Marina in Oostende festgemacht. In der Einfahrt zur Schleuse ruft einer der Mitarbeiter der Nachbarmarina herüber: »Zur Mercator-Marina? Da müsst ihr aber vorher anrufen!« – »Haben wir gemacht!« Alte Segelhasen, die wir sind. Tatsächlich hab ich schon zwei Tage zuvor von Cadzand aus (Nullchecker, der ich bin – Oostend wäre niemals zu erreichen gewesen, schon gar nicht in zwei Stunden!) in der Marina angerufen und erfahren, dass sie ab Freitag (13. Mai) komplett ausgebucht sind: es findet irgendeine Wochenendregatta (Oostende Anker Week) statt. Deshalb habe ich heute draußen vor der Hafeneinfahrt angefunkt und Glück gehabt: Eine Yacht geht um zwei Uhr raus und wir können ihren Platz haben.

Die Innenstadtmarina in Oostende ist der Traum. Zentral gelegen, Stadtmitte, Bahnhof, Strand jeweils in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen. Als ich mit Paula im Januar hier war, habe ich noch sehnsüchtig den Yachten im Hafen und draußen vor der Küste nachgeschaut. Und jetzt bin ich selber auf einer! Ein Traum in echt. Stadtfein machen und zur Fischbude rennen ist eins. Drei hausgeräucherte Herings(doppel)filets (mit der Schere in aufspießfähige Stücke geschnitten und deshalb plötzlich obersaftig) sind selbst mit der Haut extrem lecker. Aber viel zu viel, selbst für zwei ausgehungerte SeglerInnen. Irgendwie gehen sie doch weg. Ein Schnaps wäre jetzt gut. Aber es ist erst halb vier. Abends soll es die legendäre Fischsuppe geben, für die Oostende bekannt ist. Ich hab Nina so oft davon vorgeschwärmt, dass ich sie jetzt dazu einladen will. Besser einen Tisch reservieren. Sehr gern (und gar nicht nötig, das Lokal ist leer). Nur: Sie schließen um 17:30h, last orders um fünf. Schon wieder zu essen klingt nicht verführerisch. Aber es muss eben dieser Laden, es muss diese Fischsuppe sein …

Anderthalb Stunden Schnellverdauen ist angesagt, beim Lauf durch die stark belebte Fußgängerzone, am James-Ensor-Haus vorbei, beim raschen Blick über die Strandpromenade. Dann müssen wir zurück.

Ob wir tatsächlich die Fischsuppe wollten? Ist eine ziemliche Portion, der supernette Kellner macht eine ausladende Handbewegung … Aber versprochen ist versprochen. Es muss diese Suppe sein, egal wie ausladend.

Bon Appetit!

Nina schafft wenigstens die Fischeinlage, ich kämpfe mich bis zum Grund des kinderbadewannengroßen Tellers. Sollte ich erwähnen, dass dazu noch hausgemachte rosa Crème-Fraîche-Sauce, Croutons und geriebener Käse serviert werden? Dazu lecker Brot und Butter? Vorher Oliven?

Punkt halb sechs schleppen wir uns aus dem Lokal. Für mich fällt der vorgesehene Stadtrundgang aus, ich kann nur noch rollen. Mittagsschläfchen ist angesagt. Nina zieht nach kurzer Ruhepause alleine los. Ich wache wie gerädert um halb zehn auf. Alles außer hungrig.

Bahnhof Oostende, Bauch: Westende

Beim ersten Hetzen durch die Stadt sind wir mitten durch eine Travestieshow gestolpert, sechs gesetzte Herren in lilaglitzernden engen Stramplern, zentimeterdick und bunt auf betörend geschminkt, halten sich zu übersteuert wummernden Abba-Hits Mikrophone vor den Mund. Aber sie (und das Publikum) haben Riesenspaß. Anscheinend ist CSD in Oostend. Jedenfalls ein Riesenvergnügen.

Jetzt, am Ende des Abends erinnert mich irgendwer, dass an diesem Samstag der Eurovision Song Contest übertragen wird, früher war das der höchste Feiertag unter unseren LGBTIQ-Freunden (die damals noch anders hießen). Wahrscheinlich übertragen sie die Auszählung (»Ukraina:: duusend punts, Jukrainia: twelve points, l’Uqureine: douze points«) – Weit gefehlt: Auf dem Platz läuft eine pansexuelle Monsterdisko, der DJ ist selbst sein bester Unterhalter, die Menge tobt. Von Abba, belgischem Schlager, über Pet shop boys bis zum härtesten Tekkno (eine Version von „Alle Gläser hoch!“ ist auch dabei – es ist fast wie Karneval, Masken kennt der Belgier nur für alte Leute) der Wirbelwind-DJ spielt alles nur kurz an, quatscht dazwischen und loopt wie ein Verrückter. Aber die Menge liebt es. Und ich, nach dem dritten Bier, auch. Sogar ein wenig gedanced hab ich. Kurz: Oostende hat sich an diesem Traumtag von seiner besten Seite gezeigt. Nina mag die Stadt auch.

Elli im Hafen von Oostende
Ein Bombentag

(darf man bestimmt auch nicht mehr sagen)

Seit drei Tagen sitze ich in Gravelines (reimt sich auf: (verpassten) Termin, dazu später) und starre auf die Hafenschleuse, obwohl die nur zwei Mal am Tag aufgeht (und dann auch nur für vier Stunden). Wenn sie aber aufgeht, ist es ein Schauspiel. Tidenhub von fünf Metern. Im Hafenbecken nur drei. Aber hinter bzw. vor der Schleuse wird aus einem breiten Kanal eine schäbige teigbraune Schlammsenke (mit Booten, die aufsitzen). Doch ich greife vor …

Ein Gennaker-Tag

Sonntag, 15. Mai. 09:00 öffnet der superfreundliche (wie anscheinend alle) Hafenmeister/Schleusenwärter in Oostende nach Funkanfrage allein für uns die Schleuse (eigentlich wollten wir um acht los, zum Beginn der Schleusenzeit, aber ich hatte eine Verabredung zum Tee mit Paula), wie üblich aus dem Hafen motort, Wind NO 3-4, Kurs 280°: perfekte Bedingungen. Übermütig Gennaker gesetzt, wir machen 2,8 Knoten, ganz okay für die alte Elizabeth (aber jeder sportliche Fußgänger könnte uns überholen). Nina steuert wie die eins, Gennaker steht hoch und bunt, es geht mächtig voran – ein Träumchen.

Nina and Jenny have fun

10:45 Hafeneinfahrt Niewport passiert, 13:35 Boie Whitley dito (HMS Whitley, Schiffswrack, schätze im WK II dort versenkt). 

Um das Riesensegel, als es einfällt, aufzublähen, greife ich ins Schot. Funktioniert auch super, dann fällt der Wind ins Segel, die Schot, nicht mehr als eine dünne Leine, schießt mir durch die Hand, entwickelt sofort mächtig Reibung … Finger (leicht) verbrannt (keine Blasen). Lektion 7: Gennaker nur mit Handschuhen.

Kaffeekühlung

Nina steuert den Gennaker aus, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, sie genießt es sichtlich, ich nicht weniger … bis 14:15 die Fußleine bricht und das Riesensegel weit vor dem Vorstag im Himmel flattert. Also Gennaker einholen unter erschwerten Bedingungen. Schaffe ich auch (im Windschattten des rasch ausgerollten Vorsegels), (fast) ohne ihn ins Wasser fallen zu lassen: die letzten anderthalb Meter oder so sind eingetaucht. Bin ich schon ein wenig stolz auf dieses Manöver. Das Groß holen wir an diesem Tag nicht mehr raus, nur unter Vorsegel dümpeln wir Richtung Dünkirchen. Andere Yachten überholen uns. Scheiß der Hund drauf, uns geht’s gold.

»Schau auf den Fluss und warte geduldig, bis die Leichen deiner Gegner vorbeitreiben.«

Nach Nina, buddhismus-affin

Dann kommen die Fliegen. Ob die olle Tante Else wohl besonders streng riecht? Jedenfalls überfällt uns ein mächtiger Schwarm. Sie lassen sich auf allen Teilen des Bootes nieder, vor allem die Persenning [Schutzüberzug] des Großsegels scheint es ihnen angetan zu haben. Wo sie um den Mast spannt, ist von der dunkelblauen Farbe nichts mehr zu sehen, schwarz vor Fliegen (nicht übertrieben!). Abends holen wir die „Mausy“ (betont auf der letzten Silbe, es ist eine Yacht frankophoner Belgier) wieder ein. Später im Hafen reden wir – Mausí hat die Fliegenplage auch gehabt.

In der Marina sehe ich beim Einfahren eine Moody 33 liegen, Mk II, exakt dasselbe Modell, nur ein Jahr jünger. Übermütig rufe ich ihnen rüber »MOODY!!!«.1
Nina versteht »NUDELN!!! Macht irgendwie kurz vor dem Abendessen auch Sinn. 18:30 festmachen in Dunquerque. Der Skipper der anderen Moody winkt uns zu einer Box nahe seinem Schiff und hilft uns. Ich lade ihn und seine Lebensabschnittsbegleiterin (heißt inzwischen sicher auch anders) auf einen Wein nach dem Abendessen ein. Sie leben auf ihrem Boot das ganze Jahr über und scheinen damit zufrieden (und extrem ausgeglichen) zu sein. Außerdem leihen sie uns den Elektronik-Chip für die Toiletten: das Büro des Hafenmeisters ist nur von neun bis fünf besetzt (Marina im Besitz der öffentlichen Hand). Spaghetti (Nudeln!) mit Tomaten-Paprikasauce. Nina und ich sind jetzt seit einer Woche unterwegs. Kommt uns beiden länger vor.

«Sooo klein? Dann buch dir doch eine größere Kabine!«

Freundin von Nina

… sagte ihr eine Freundin, als Nina ihr erzählt hat, in welch beengtem Raum sie wird leben müssen. Um zu illustrieren, wie weit entfernt von unserem Segelabenteuer die Vorstellungswelt ihrer Bekannten ist. Müßig zu erwähnen, dass die alte Elizabeth nur über zwei Kabinen verfügt (hinten breit, aber nur 1,60 hoch, vorne große Liegefläche, Stehhöhe, eigene Luke, aber kaum Platz um sich aufrecht stehend zu bewegen (zum Beispiel sich anzuziehen)). Dass zwei Leute ihr ganzes Leben auf einem Schiff dieser Größe/Kleine verbringen, im Winter mit »Webastó« (Standheizung), wäre Ninas Freundinnen wohl kaum begreiflich zu machen.

Bei dem schönen Wetter hab ich meine neuen Croqs ausprobiert, barfuß. Und abends eine olfaktorische Epiphanie erlebt. Riecht überhaupt ziemlich streng in der Achterkabine. Lektion 8: Croqs? Nur mit Soqs!

Montag, 16. Mai. 08:00 (bevor der Hafenmeister kommt: Liegegeld geprellt (haben uns die Liveaboards ausdrücklich nicht von abgeraten: machen alle so. Zahlt eh der Staat)) Ablegen in Dünkirchen (weit außerhalb liegender Hafen mit nichtssagender Umgebung). Sieht ganz freundlich aus, der Tag. Großsegel und Genua hochgezogen. Draußen weht ein anderer Schnack: Wind SW 5-7, Welle 1,5m Kurs 290°, nach Wende 210°, also mal wieder fast gegenan. Leider nimmt der Wind noch zu. Im Starkwind ist an Reffen nicht zu denken, Nina traut sich nicht zu/ist zu schwach, das Boot auf Kurs zu halten. Und dann wird es auch noch diesig. Oder ist das die Gischt, die wir aufwerfen? Jedenfalls ziemlich ungemütlich. „Weather helm“ nennen es die Seeleute, wenn ein Schiff bei Starkwind schwerer zu steuern ist als üblich (Hydrovane-Bedienungsanleitung). Ich muss mich jedenfalls schwer ins Steuerrad stemmen, um die Elizabeth am Wind, nicht quer zu den Wellen und auf Kurs zu halten. Der Bug taucht bis zum Anker ein, Gischt wischt einen Fuß hoch über das Unterliek der Genua: Wir sind völlig übertakelt, aber mir fällt nichts ein, was ich tun könnte. Beiliegen bei dieser Welle (auflaufende Flut) wäre super wackelig. Die Wende Richtung Land wird eine Nervenprobe, klappt aber zum Glück. Keiner ist froher als ich, als ich an der Küste zwei Leuchttürme ausmache, die eine Hafeneinfahrt markieren könnten …

Tatsächlich laufen wir in Dunquerque-Ouest ein, aus irgendeinem Grund wird der riesige Industriehafen auf dem Navi (das ich bei diesen Bedingungen ohnehin nicht checken konnte) nicht als Möglichkeit dargestellt. Selbst im Hafenbecken bläst es derart herb, dass Nina das Boot nicht im Wind halten kann. Also Großsegel bergen, während sie quer zum Wind hin- und her motort.

Alles geht gut, wir machen an einer haushohen Kaimauer (für riesige Frachter oder Containerschiffe) fest. Nina hat die Vorleine noch nicht durch die überdimensionalen Ösen an der Hafenmauer gezogen, da hupt es hinter uns. Drei Mal. Kein gutes Zeichen.

Die Hafenpolizei kommt vier Mann hoch auf einem Schlauchboot mit Blaulicht: »Sie dürfen hier nicht festmachen!« Ich bettle darum, dass sie uns wenigstens eine halbe, zur Not nur eine Viertelstunde zugestehen, wir sind völlig erledigt und brauchen eine Pause. Einer funkt sogar mit der Hafenleitung, aber da ist nichts zu machen: da wir keine Panne haben, sind wir kein Notfall und müssen »immediatement«, also auf der Stelle, sofort! wieder losmachen. – »Oui, Monsieur, j’ai compris.« Inzwischen hätte Nina die Vorleine perfekt belegt gehabt …
Einer der beiden älteren Polizisten erklärt uns, dass wir uns, solange wir das Boot bewegen, so viel Zeit lassen können, wie wir brauchen. Also tuckern wir durch den riesigen Hafen, das öffentlich-rechtliche Schlauchboot wenige Meter hinter uns als Geleitschutz, aber ohne Blaulicht (glaube ich). Nina kocht Kaffee, ich rauche. Aber ich tuche auch das Großsegel auf und ziehe die Persenning drüber – segeln werden wir heute nicht mehr. Bis Gravelines ist es, glaubt man den Männern auf ihrem hochmotorisierten Schlauchboot, nur eine kleine halbe Stunde.

Wir brauchen ein große volle Stunde, bis wir die roten und grünen Säulen am Ende der ewig langen Schutzmolen ausmachen (nicht den pittoresken, schwarzweiß spiralig geschlängelten Leuchtturm (Weltkulturerbe, wie alle Leuchttürme an der franz. Kanalküste) ansteuern!) Dann geht es auf einen Kanal (Vauban was here, der große Meister des Festungsbaus) auf eine Art Scheune zu, 110° Kehre (liest Nina vom Navi ab) und wir fahren entspannt durch die Schleuse ins Becken der Marina Gravelines/Bassin Vauban). Little did we know dass wir (Anfängerdusel) genau die Nachmittagsöffnungszeit der Schleuse erwischt haben. Wegen des enormen Tidenhubs schließt die Schleuse zwei Stunden nach Hochwasser – um genug Tiefgang für die Yachten in der Marina zu gewährleisten. Die Motorboote am Hafenrand sinken jedoch bei jeder Ebbe in den weichen, tonartigen Schlammuntergrund.

14.20: Nina geht ins Städtchen (Altstadt innerhalb einer sternförmigen (Vauban!) Festung mit steilen Wällen und tiefen Wassergräben (zu tief, dass ein Pferd stehen, zu flach, dass ein Schiff fahren könnte, hab ich an der alten Festung nahe de Heen gelernt). Jedenfalls lässt die Schleuse bei Gravelines zu, dass sich das Bassin Vauban bei auflaufender Flut füllt und hält das Wasser der Aa (so heißt der Fluss durch das Örtchen, sicher ganz vorne im Lexikon der Bäche und Ströme) drin.

Abends das umgearbeitete neue (alte, gebrauchte) Segel, einen Flieger (oder Yankee) mit hochgeschnittenem Unterliek, wegen der besseren Sicht auf andere Schiffe, aufgez… ähem: aufzuziehen versucht. Ich Idiot hab nicht gemessen, nur geschätzt und statt 5 (oder vier?) Milimeter einen 6-Milimeter Keder [eingenähte Leine, die das Segel in der Nut des Vorstags hält] anbringen lassen. Klemmt und lässt sich nicht aufziehen. Ich ärgere mich schwarz (zumindest meine Lungen, zumindest eine halbe Stunde). Dann ziehen wir die kleinere Genua auf, unten um 20cm Leine verlängert (damit sie höher steht und man drunter durchgucken kann). Abendbier im Cockpit mit Nina auf diesen Sch…tag. Bei bestem Wetter, romantischem Sonnenuntergang, freundlichem Vollmond … Außerdem hat Wüst die NRW-Wahl gewonnen. Aber wie sagte schon Shakespeare: Nur die allerdümmsten Kälber … (könnte auch Robert Gernhard gewesen sein.) Tomate Mozarella, Hörnchen mit veganem Pesto, Wein.
23:00 öffnet sich die Schleuse geräuschlos und selbsttätig. Spooky.

Morgen fährt Nina aus dringenden familiären Gründen (hoffe, dass das stimmt und ich nicht etwa zu streng mit ihr war, sorry!) nach Hause, übermorgen in aller Herrgottsfrühe (bis 04:27h ist die Tidenschleuse offen) geht’s über den Kanal. Falls dies der letzte Eintrag in diesem Blog sein sollte, hat mich ein Frachter niedergesemmelt. Drückt mir die Daumen!

Die Schleuse des (Morgen-) Grauens

oder

Gestrandet in Gravelines (Port de Plaisance (höhö) Vauban-Gravelines)

oder

Eine Orange mit zwei Nabeln
und andere Missbildungen

Dienstag, 17. Mai 2022. Um 06:00 nicht mehr schlafen können, Superschnuck (mein anderer Blog bzw. Instagram-Account, zur PR meines Thrillers Qazqrom, der sich am Buchmarkt schwertut (liegt wahrscheinlich am sperrigen Titel) geschrieben. Aber: Das WLAN/WiFi in der Marina funktioniert nur für drei Stunden, ich brauche aber noch Internet für Navi- und Wetter-Updates, also verschoben (Fehler!), geräumt (meine Kleidung aus Reisetasche endlich in die Fächer der Achterkabine gestopft), Tidenübersicht (wegen der Strömungen im Kanal) geschrieben, Kurse geplant. 09:00 Diesel nachgefüllt (30 Liter Verbrauch für 20 Motorstunden, also nur 1,5l/h: Super! – »Nein: Diesel!«), halb elf geht Ninas Bus (nach Calais, volle Stunde für die 20 Kilometer, der hält an jedem Baum!), anschließend Runde durchs Städtchen (éclair au chocolat), Konsole für Funkgerät gesägt, neues Funkgerät (mit AIS [Automated Identification System], warnt (und gibt mir die Funkverbindung) vor jedem Frachter – ich hab mächtig Respekt vor der Einhand-[nur der Skipper an Bord] Ärmelkanalüberquerung, eingebaut und getestet (mit der Sekretärin des Hafenmeisterbüros: »Merci, Aurelie!«). MMSI und Atis-Nummern [persönliche Funkkennung für internationale und deutsche Gewässer] eingegeben. Funktioniert alles problemlos.

Problem war allerdings, dass mein Internet-Zugang anscheinend nicht steht. PredictWind und Navionics scheinen jedoch zu laufen. Hoffentlich. Bratkartoffeln mit Chorizo. Wein (ein wenig).

Im Hafenbecken schwimmen (bei Flut) große Schwärme von Jungfischen, könnten Forellen sein, und wirbeln das Wasser auf. Dazwischen Einzelgänger von ausgewachsenen Exemplaren, sicher armlang. Aber acht von zehn tragen fleischfarbene wulstige Geschwüre an Rücken oder Flanken, bis zu hühnereigroß. Sieht nicht schön aus. Sollte da etwa ein Atomkraftwerk in der Nähe stehen? Tut es, Wikipedia: Kernkraftwerk Gravelines.

Mittwoch, 18. Mai. 03:00 aufgestanden. Kaffee (auch auf Vorrat gekocht) und Kippe, Müslifrühstück. Kurz vor halb hab ich bereits die Foulie-Hose an [Foulies (für „foul weather gear“ nennen die Amerikaner (z.B. James von „sailing-zingaro“) die Schlechtwetterbekleidung: Latzhose, Jacke mit hohem Kragen], da meldet sich dringender Stuhlgangbedarf. Ist natürlich alles Kopfsache, nervöser Angstschiss. Aber raus muss er trotzdem. Also wieder Hose runter. Viertel vor vier, Seglermesser und Taschenlampe (es ist noch stockfinster, trotz Vollmond) griffbereit im Steuerradkästchen (Danke vielmals, Doro!), Schwimmweste und Sicherungsgurt bereitgelegt. Jetzt muss ich nur noch die Landstromleitung ausstöpseln und die Festmacher loswerfen. Doch der Motor springt nicht an. Das weiße Vorglühlämpchen glimmt nur ganz schwach, der Anlasser tut keinen Mucks. Mehrere Versuche, gleiches Resultat. Panik. In einer halben Stunde geht die Schleuse zu. Hektisch Batterien umgebaut (Verbrauchsbatterie gegen Motorbatterie getauscht). Selbes Resultat. Um Viertel nach vier gebe ich auf. Zwischen zwei Schleusentoren verklemmt oder gar zertrennt zu werden ist nicht die Art Ende, die ich mir für diese Geschichte wünsche. Denn blöderweise hab ich beobachtet, dass die Schleuse erst zugeht, kurz innehält und dann endgültig schließt. Erst dann (super Idee, ihr Mechaniker/Programmierer!) leuchtet die rote Ampel auf…

Ist nicht mehr zu schaffen. Erstmal in Ruhe (?!?) geraucht. Tatsächlich ging die Schleuse erst um halb sechs wirklich zu. Hätte mir aber auch nichts gebracht.

Bar und Querkiste am Salontisch ausgeräumt (Lebensmittelvorräte), geordnet und wieder eingeräumt. Zuvor eineinviertel Eimer Bilgenwasser aus der Querkiste geschöpft (getupft: Schwämmchen). Batterien gecheckt: kein loses Kabel, scheinen voll geladen zu sein, keine Ahnung, wie ich das prüfen kann. Charger gecheckt – lädt. Am Batterieende gecheckt – werden geladen. Für Tabak (14,40€ für 30 Gramm!) und Kaffee ins Städtchen – Nachdenken. Landstrom funktioniert. Könnte das Anschlusskabel verpolt sein? (Für Schukostecker ist die Polung belanglos, für das Ladegerät macht es einen Unterschied: Batterien können nur in eine Richtung geladen werden.) War es aber nicht. Ratlos im Büro des Hafenmeisters –»Campingstrom ist überall gleich – wir sind doch in Europa!«. Nachmittags soll für eine andere Yacht ein Bootsmechaniker kommen. Ob der für mich Zeit haben wird, ist alles andere als sicher, der Mann ist höchst beschäftigt …

Schalttafel am Zündschloss abgeschraubt und gecheckt: keine Auffälligkeiten, alle Kabel fest, an allen gewackelt – da springt plötzlich der Motor an, als wäre nichts gewesen. Nur die gelbe Ladeleuchte brennt. Also Schalttafel wieder ausgebaut, alle Kontakte eingesprüht. Motor springt tadellos an. Und auch die gelbe Ladeleuchte erlischt. Fühlt sich göttlich an, bin sehr zufrieden. Und überglücklich.

Sage beim Hafenmeister dem Bootsmechaniker ab. Erfahre dabei, dass das Wifi in der gesamten Marina schon seit Tagen (Wochen?) nicht funktioniert. Liegt also nicht an meiner Dämlichkeit.

Cockpitlautsprecher ans Funkgerät angeschlossen; angefangen, den Wackelkontakt an der Bug-Positionsleuchte zu suchen – ist bei Tageslicht schwierig. Kanisterbefestigung am Herd angebracht, endlich Schräubchen in Ordnungskästchen einsortiert: sehr befriedigend. 17:00 zum Super U, zwanzig Minuten Fußweg (gestern, zum Tanken, hat mich Jérémie, der Lehrling des Hafenmeisters gefahren – (Wir tun) »Alles für den Klienten!«, Gummistiefel und Akkus für die Bordtaschenlampe (Jetzt leuchtet sie!) gekauft. Unterwegs passiert man das Spantengerüst der Jean-Bart, dem Nachbau einer 17.Jhdt-Fregatte. Da arbeiten die seit vierzig Jahren dran, erklärt Jérémie. Erinnert mich irgendwie an irgendwas …

Alte Seemannsweisheit: »Wenn der Motor nicht anspringt, WD 40 auf den halb im Zündschloss steckenden Schlüssel sprühen, dann Zündschlüssel eindrücken und drehen – schmiert die Kontakte von innen.«

alter Zeemann mit zwei Zetts: Zigaretten ohne Ende, dafür keine Zähne

Hätte ich mal gestern früh wissen müssen.
Muss noch: zweites Reff ins Segel binden, neue Strömungstabelle schreiben (Flut ist morgen anderthalb Stunden später). Baguette mit Räucherlachs. Kein Alkohol.
Bei Anbruch der Dunkelheit Bugpositionsleuchtenkabel aufgeschnitten, Wackler nicht gefunden. Decksdurchlass (eine Art Steckdose, mehrfache Gummidichtungen, original von 1979, korrodiert) aufgeschraubt, brüchiges Kabel gefunden. Überbrückt. Aber Positionsleuchte strahlt trotzdem nicht. Um Mitternacht entnervt aufgegeben.
Morgen ist Abfahrt um 05:00. (Wenn Gott da nicht geschmunzelt hat, existiert er nicht. Oder er hört nicht gut zu.)

Donnerstag, 19. Mai 2022. 04:00 aufgestanden. Kurse im Logbuch vornotiert. Strömungstabelle korrigiert. Wettervorhersage gecheckt. Zweites Reff ins Groß gebunden. Fouliehose extra noch nicht angezogen. Motor … startet wieder nicht. Exakt gleiches Bild wie gestern. Anscheinend arbeitet die olle Tante Else nicht so gerne mitten in der Nacht. Ob der Motor die nächtliche Feuchtigkeit nicht verträgt? Bis zur Schleusenschließung hab ich offiziell noch zwanzig Minuten, aber sicher bleibt sie wieder länger auf …
Wärmeöfchen (volle Stärke, höchste Temperatur) in den Motorraum gestellt. Zwei geraucht. Motor springt an. Deswegen also hatte Schuurd, der alte Schlingel (und Vorbesitzer), das Elektroöfchen (das ich bei der Besichtigung für ein Batterieladegerät hielt) griffbereit unter dem Navigationstisch. Der Trick funktioniert selbstverständlich nur bei Landstromanschluss. Noch ein Grund, möglichst früh in den Süden zu kommen.
Jetzt nur noch rasch das Stromkabel ausstöpseln und einholen, die Leinen loswerfen und los! Dreh ich mich um: Die Schleuse hat sich (wie üblich geräuschlos) geschlossen.

»Lieber Gott, halt einfach mal’s Maul!!«

Skipper um 05:38 vor der Schleuse des Grauens
Die Schleuse des Grauens (zufällig gerade offen)

Tagesorange (Versprechen an Paula) gefrühstückt. War lecker. Noch eine angeschnitten (zum Schälen). Dabei stelle ich fest, dass sie zwei Nabel hatte, zwei Mal Blütennarbe und zwei Mal Stielansatz. Hab ich noch nie gesehen. Sicher ein gutes Omen (»Schnüss da oben!«)

Plan: Nachmittags geht die Schleuse wieder auf, hoffentlich gegen drei. Wenn ich bis dahin die Positionslichter am Start habe, fahre ich dann noch los. Sollten nicht mehr als sechs Stunden sein bis Dover. Aber eigentlich will ich auf keinen Fall im Dunkeln ankommen …

Ab halb sieben diesen Blog geschrieben. Um halb acht fängt es an zu regnen. Der Unaussprechliche setzt noch einen drauf und lässt es blitzen: fernes Gewitter: Gott ist bösartig (oder seine Wettersocken sind in der Wäsche). Unter diesen Umständen kann ich kein Kabel auf dem Vorschiff reparieren. Und der Motor startet auch nicht mehr. Scheint tatsächlich an der Feuchtigkeit zu liegen. Ich fühl mich verarscht. Gottfroh bin ich, dass ich im letzten Mai aus der Kirche ausgetreten bin (keine Begründung nötig, wäre sonst ein Wort mit W gewesen). Sonst würde ich für dieses (lautlose, aber) unüberhörbare Kichern auch noch Kirchensteuer bezahlen …
Und dann denke ich an Ninas Weisheiten und starre geduldig auf den Fluss. Oder in meinem Fall: auf die Schleuse.

11:00: Es regnet und windet, dazwischen böse Böen (sogar hier im Hafen). Eigentlich bin ich doch ganz froh, dass ich jetzt nicht draußen bin. (»Okay, Gott, vielleicht war ich zu harsch. Tut mir leid, sorry.« Vielleicht können wir es doch nochmal zusammen probieren.) Alle Einhandsegler fangen irgendwann an Selbstgespräche zu führen. Dass ich schon nach zwei Tagen soweit bin, macht mich nachdenklich. Sollte mich mit meinem einzigen Geprächspartner wohl nicht anlegen.

Neuer Plan: Morgen (Flut wahrscheinlich gegen sechs) um fünf Uhr Öfchen anwerfen, um sechs Uhr (Tageslicht!) abfahren. Wettervorhersage verspricht kaum Wind, keine Regenwahrscheinlichkeit. Die Tidenstromtabelle schreibe ich nicht mehr um, sondern neu. Klingt vielversprechend. (»Grins du nur, ich hör gar nicht hin.«)

13:00 Gott ist nachtragend: Eben sagt mir die Hafenmeisterin, dass sie gehört hat, dass Dover (Douvres) bis Mitte SEPTEMBER komplett geschlossen hat. Telefoniert, bestätigt. Umdisponiert auf Ramsgate. Am Arsh der Welt, aber immerhin Britain. Telefonaufzeichnung erklärt, dass sie keine Reservierungen machen. Ankommen auf Kanal 14 die Port Authority anrufen, auf Kanal 60 Weiteres vereinbaren. Sollte zu machen sein,

16:30 erster Waschtag, erstes Paar Socken getrennt – jetzt wird Gott auch noch kleinlich. Außerdem springt der Motor auch in der Hitze (20 Grad zeigt die Schleuse des Grauens in ihrem freundlich (oder hinterhältig?) rotleuchtenden Display) nicht an. Derzeit steht sie übrigens offen (seit 14:00). Abends ins Städtchen, auf den Rathausplatz strahlt noch die letzte Abendsonne. Dort sind allerdings alle Plätze im Café (und Tabakladen) besetzt. Zwei (kleine) dunkle Biere getrunken (à € 6,70 – ein Skandal!). Danach sieht die Welt schon freundlicher aus. Wenn die alte Tante morgen früh wieder nicht anspringt, verkaufe ich sie eben, denke ich fast beschwingt. Mangold gebraten aus der Wok-Pfanne.

D-Day

Der längste Tag bisher war Freitag, 18. Mai. Vier Uhr aufgestanden, Öfchen im Motorraum platziert, vorgeheizt. Kaum gefrühstückt, keine Wetterkleidung angezogen, nicht einmal den elektronischen „Badge“, der Zugang zu den Stegen, zu den Toiletten und dem Raum mit Spülbecken und Waschmaschiche ermöglich, in den dafür vorgesehenen Briefkasten am Steg geworfen: schon zwei Male musste ich mir den neu holen, superpeinlich – ich glaube, die Leute in der Marina sind nur deswegen so superfreundlich mit mir, weil sie mich für einen kompletten (und gefährlichen?) Idioten halten … was wollte ich sagen? Ach ja: Seeleute sind höllisch abergläubisch. Ich jetzt auch. Also: Die Elizabeth sieht aus wie immer, nichts deutet auf Aufbruch hin (Geschirrschränke zugeschoben, Gemüsekiste im Klo verstaut, Tisch zusammengebunden, Hocker daneben mit Kissen verklemmt, Topflappen in Schälchenfach gestopft, Schneidebrett vor das Tellerfach gesteckt, Klotür verriegelt – die Vorbereitungen für evtl. schlechtes Wetter dauern sicher zwanzig Minuten. Foulies, Schwimmweste, Sicherheitsgurt (Frühstücken, Kaffeekochen) nicht mitgerechnet.

Was soll ich sagen? Trotz Vorheizen sprang der Motor nicht an. Fluchen und Schimpfen halfen nicht viel. Am Ende bin wie Rumpelstilzchen auf dem Teil des Kabelstrangs herumgetrampelt, in dem ich den Wackelkontakt vermute. Geschrien wie der Märchenzwerg hab ich wohl auch. Und die Mühle sprang an! Rascher Seitenblick: die Schleuse ist noch offen, 5,35m zeigt die Anzeige, das Wasser steht hoch über der Marge von drei Metern, die ich nach tagelanger Beobachtung für die Schaltschwelle der Schleusenautomatik halte. Dass der Wasserstand im Minutentakt sinkt (und die Anzeige das leuchtenrot wiedergibt) erwähne ich gar nicht erst.

Also in aller Ruhe (Witz!) das Boot abfahrbereit gemacht, Kaffee gekocht, mich angezogen. Leinen los und um 05:30 habe ich es tatsächlich durch die Schleuse geschafft. Gemischte Gefühle.
Es wird gerade hell, das Städtchen schläft, nur ein Fischerboot überholt mich in der langen Hafen- und Molen-Ausfahrt. Und der Motor tuckert gemütlich. Super Geräusch.

Draußen ist es windstill, keine Welle, nur eine leichte Dünung [lange, sanfte Wellen, die von Winden der vergangenen Tage übrig geblieben sind] verzaubert das Wasser in seidiges Wogen. Bilderbuchsonnenaufgang in grellorange über der französischen Kanalküste. Im Westen sind die grauen Industriegebäude von Dünkirchen, im Osten die weißen Fährterminals von Calais zu sehen. Und erste Fähren legen auch schon ab.

Ohne Wind motore ich durch den stillen Morgen. Um 06:30 taucht ein Seehund den Kopf aus dem Wasser und schaut mir nach (es ist so ruhig, dass ich sogar während der Fahrt Logbuch führen kann), später weiter draußen noch ein zweiter. Unter Motor (und mit Navionics) ist Kurshalten ein Kinderspiel.

Um 08:30 fahre ich ins erste TSS [Traffic Separation Scheme, Verkehrstrennungsgebiet, die Autobahnen der Frachter] ein. Nicht besonders viel los. Vorschriftsgemäß ändere ich den Kurs, so dass ich die Großschiffroute im rechten Winkel kreuze. Dies ist der Teil der Kanalüberquerung, vor der ich den meisten Respekt hatte. Ein paar wenige Frachter ziehen vorbei, von West nach Ost (dies ist die rechte Spur), ob sie mir überhaupt ausweichen oder ohnehin viel zu schnell für mich sind, kann ich nicht sagen. Um 09:15 habe ich dieses erste TSS hinter mir. Erleichterung setzt ein. Weil mein neues Funkgerät AIS empfängt und jede Menge Schiffsverkehr herrscht, geht etwa alle dreißig Sekunden der Alarm los, ”Collision warning!“. Der muss jedes Mal zweifach weggedrückt werden. Zum Glück hab ich das Funkgerät hoch oben neben dem Niedergang platziert, wo es gut sicht- und erreichbar ist. Trotzdem nervt das andauernde Piepen (und lenkt auch ab). Im lila Bereich zwischen den Verkehrstrennungsgebieten (der Mittelstreifen sozusagen) kupple ich aus und lass mich treiben (Klopause, Versuch, das AIS auf geringere Entferung umzustellen: Warnungen vor einem Schiff, das mehr als 6 Meilen (ca. 11 Kilometer) entfernt ist, nutzen mir gar nichts. Aber verstellen lässt sich nur die Bildschirmdarstellung, nicht die Empfindlichkeit des Geräts (so weit ich das verstanden habe). i-pad so eingestellt, dass ich es nicht jedes Mal mit Geheimzahl entsichern muss. Nervt auf die Dauer auch. Aber alles läuft!

10:15 Einfahrt ins zweite (von drei) TSS (die Gegenspur). Hier sind eine ganze Reihe von Riesenschiffen unterwegs, überholen sich zum Teil. Das AIS spielt komplett verrückt. Aber ausschalten kann ich es natürlich auch nicht. Dazwischen sämtliche Funksprüche (und Warnungen und Wettervorhersagen von Dover bis Boulogne) Und der Funkverkehr zwischen den Schiffen (auf Kanal 16, muss angeschaltet sein: Vorschrift).

Ab zehn Uhr ist der strahlende Sonnenschein vorbei. Bedeckter Himmel mit einer dünnen Schicht gelblichen Nebels in der Ferne auf dem Wasser (Abgase?). Eine Viertelstunde später setzt leichter Regen ein. Wellen gibt es noch immer nicht, aber die Dünung hat etwas zugenommen, vielleicht 0,5m (aber in langen ruhigen Hebungen). Mehr zum Schaukeln bringen mich die Bugwellen der Riesenschiffe. Aber: Was soll’s, das wollte ich so.

Um 11:15 das dritte und letzte TSS (eine Art Einbiegespur) verlassen. Damit ist der Stress vorbei (dachte ich).

Um halb zwölf setzt leichter Wind ein. Könnte man segeln. Bei dem inzwischen stärkeren Regen bin ich zu faul, das Groß hochzuziehen und rolle nur das Vorsegel aus. Geht gut. Motor ausgemacht. Fehler (Habt ihr sicher schon vermutet, aber tagsüber sprang er doch meist irgendwann an. Und ich hatte noch eine lange Strecke vor mir und … vergesst es: Ihr habt Recht.) Dennoch geht es voran, ziemlich genau gegenan, aber mit der kleineren Genua angenehm zu fahren, 1,2kn. Um zwölf hat der Regen zugenommen, Graupelschauer dazwischen. Aus Versehen habe ich die Luke der Achterkabine aufgeschoben (mit dem Hintern), hat reingeregnet. Hektisch schieb ich sie zu. Da explodiert etwas direkt neben meinem Kopf: Ich muss die Handauslösung der Rettungsweste irrtümlich gezogen haben, denn soo stark kann der Regen auch nicht gewesen sein (war er aber tatsächlich, stellt sich später heraus). 

Gerettet!

Ich hab die Faxen dicke, rolle das Vorsegel ein, kämpfe mich aus der Rettungsweste (ist gar nicht so einfach: im aufgeblasenen Zustand presst sie sich ziemlich eng an Brust und Hals. Muss im Wasser sicher ganz angenehm sein.)

Und gequetscht!

Rauchpause (im Niedergang stehend, unter der Sprayhood: es regnet noch immer).
Da zeigt mir das neue Funkgerät stolz, wie gut sich das Schiff bewegt: Kurs 180°, Geschwindigkeit: 3,3 Knoten. Heißt: ich treibe mit Karacho zurück ins TSS (und nach Frankreich!). Alarm!

Zum Motor schweige ich hier. Also Vorsegel wieder hoch. Der Schwachwind hilft mir wenigstens aus der Gefahr, auf die Frachterautobahn zu treiben. Aber egal auf welchem Kurs, gegen die Tidenströmung komme ich nicht an. Ich bin völlig durchnässt (nur die Hände), trotz Südwester. Und ausgekühlt. Ich hab sogar, der Regen hat nachgelassen, die doppelt gestrickten Wollhandschuhe an (Danke, Tamara!) Keine Ahnung, wie ich England erreichen soll. Zwischen mir und der Küste liegt eine Untiefe, irgendwelche Sands, auf denen hunderte (nicht übertrieben!) Schiffe bis zurück zur Bronzezeit liegen, aber auch Schiffe der Ostindienkompanie, also von erfahrenen Seeleuten, Fregatten aus dem WK II. (Zum Glück lese ich das alles erst auf einer Gedenktafel in Ramsgate. Die Sands sind ein Eldorado für Archäologen (und Taucher/Schatzsucher, deshalb auch gesperrt)).

Jedenfalls muss ich auf dem Weg nach Ramsgate entweder im Norden oder im Süden um die langgestreckten Sandbänke herum. Nach Norden schaffe ich es nicht. Nach Süden ist der Weg zurück. Aber der einzig mögliche. Und die Strömung treibt mich weiterhin ab, inzwischen mit nur noch 2 Knoten. Um zwei müsste der Tidenstrom kippen. Aber auf meine reiche Erfahrung mit Ebbe und Flut möchte ich mich nicht verlassen. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Meine Hände sehen uns wie schlecht aufgetaute Tiefkühlkrabben (die Arbeitshandschuhe aus dem Baumarkt schützen zwar, lassen aber natürlich Schweiß (und Regenwasser) durch). Alle kleinen Verletzungen stehen offen. Nicht einmal eine halbwegs trockene Kippe kriege ich gerollt (trotz Handtuch am Niedergang, zufällig dort, aber eine gute Idee!). Dann frischt der Wind auf, es bläst ungemütlich und kalt. Verzagt stelle ich mir vor, wie ich mit der Küstenwache funke. In meiner Phantasieszene ist der Mann am Funk ziemlich barsch: »You‘e got a sailboat, you’ve got wind – Go sailing!« Ziemlich peinlich das. Aber die Vorstellung hilft mir, den letzten Rest Entschlossenheit zusammenzukratzen. Also rein ins Ölzeug, raus in den Regen, Segel hochziehen. Und zwar inklusive Groß, das zum Glück vorsichtshalber auf das 2. Reff verkleinert ist. Geht gut ab, frischer Wind ziemlich genau aus N. Das wäre Ankreuzen gegen Wind und Strom hoch nach Ramsgate. In meinem Zustand nicht zu schaffen. Oder halber Wind für die Strecke zurück Richtung Dover. Gegen zwei Uhr erspähe ich die englische Küste und nehme das neuentdeckte Land für Scholz in Besitz. Die Kreidefelsen sind immer wieder ein toller Anblick. Gerade jetzt kann ich den brauchen. Und dann geschieht ein Wunder. Um 15:20 nehme ich die Selbststeuerung in Betrieb, die ich leider bisher noch nicht ausprobieren konnte. Aber alles klappt, die Hydrovane steuert (inzwischen 270°, genau auf Deal zu, nordöstlich von Dover und Heimat von Marita, die ich treffen werde) wie die eins. Besser als ich selbst es könnte, hoch am Wind kratzend. Ich kann Pinkeln gehen, Rauchen, mich auf den Heckkorb setzen und die Kreidefelsen bewundern – einfach geil. Inzwischen hat es sich auch aufgehellt (das Wetter, nicht nur meine Stimmung). Wir bewegen uns auf die Küste zu, auch wenn die Tidenströmung noch immer größer ist als unsere Fahrt. Eine Wende (weil es doch ewig lange dauert zum Land und ich befürchte, an Dover vorbei wieder auf den Kanal getrieben zu werden) und dann geht es schnurstracks Richtung Ramsgate, im Wasser macht das Schiff kaum Fahrt, aber das Funkgerät loggt 5,4 Knoten (!!! – Tidenstrom, diesmal von hinten) wahrscheinlich hat sich auch der Wind gedreht, es klart auf, die Sonne scheint … zum ersten Mal an diesem Tag bin ich zuversichtlich, irgendeine Stelle an Land zu erreichen, den Anker rauszuschmeißen und zu riskieren, dass das ablaufende Wasser die Elizabeth auf die Seite legt. Nur Landkontakt, bitte!

Bis halb vier hat mich die Hydrovane (alle Segler geben ihren Selbststeueranlagen einen Namen. Meine wird George heißen, zu Ehren der Krimi-Autorin) tapfer vor den Hafen von Ramsgate gesteuert. Ich rufe die Port Control an (soll man machen, um sich einen Liegeplatz zuweisen zu lassen. Sagte die Computerstimme am Anrufbeantworter der Marina) und frage um Erlaubnis, unter Segeln einzufahren. Lieber schickt er mir die Coast Guard, die mich reinschleppen sollen »Your safety is preeminent, Sir!« Was das kostet, will ich wissen. – Die arbeiten umsonst.– Da lacht das Schwabenherz. – »But they take donations.« – Sollen sie haben.

Die Rettung!

Ende gut, alles gut: Unter den gezückten Kameras der Spaziergänger auf dem riesig hohen Schutzwall um den Hafen schleppt und bugsiert mich das Schlauchboot der Coastguard an den Schwimmsteg der Marina. Erleichtert ist gar kein Ausdruck.

… hat auch noch Zeit, für ein Foto zu posieren.

18:00 Festmachen in Ramsgate. Tomatensalat mit Ziegenkäse, Spaghetti Pesto. Wein.

Heute, Samstag, 20. Mai, hab ich den Hafenmeister nach einem Bootselektriker gefragt. Kaum fünf Minuten später steht Matt, vielleicht Ende zwanzig auf dem Steg, misst Strom und Spannung aus, findet den Fehler und hat bis 14:00 ein Kabel neu eingezogen und den Motor ans Laufen gebracht. Ein Genie!

Weil ich bis zur Klärung der Immigrationsbestimmungen das Boot nicht verlassen durfte (langes Telefonat zusammen mit einem Offizier der Zollgrenzer, die am Hafenausgang ein Kriegsschiff liegen haben und damit hauptsächlich Bootsflüchtlinge aufbringen/retten. Endlich hatte auch die aufgezogene gelbe Flagge ihren Sinn: Als ich den erlösenden Anruf der Immigration erhalte und wie geheißen die gelbe Flagge einhole, kann der Offizier auf der gegenüberliegenden Fregatte sehen, dass mein Status geklärt ist) habe ich keinen Penny Bargeld. Also nachmittags zur Cash Machine, Matt bezahlen (Werkstatt im Pulverturm des Hafens, aus Napoleonszeiten: hochfeste doppelte Rundwände, leichte Dachkonstruktion – wenn das Pulver hochgegangen wäre, jagte es nach oben, nicht seitlich weg, wo es den Hafen zerstört hätte), Spende an die Coast Guard und Marina bezahlen. Fish&Chips waren auch noch drin – das Seglerleben ist ein Traum.

5 Kommentare zu „8. Französische Nordseeküste“

  1. Lieber Ulrich,

    heute Morgen habe ich deinen letzten Blog-Eintrag gelesen. Schön zu lesen, dass du es (sogar alleine) schon mal durch den Kanal bis nach England geschafft hast. Das war ja eher anders geplant. Hätte sonst heute mal Paula angerufen um zu hören, wo du steckst…

    Mir scheint, Segeln ist immer noch ein Möglichkeit, seine Grenzen zu erkunden und Abenteuer zu erleben. Das ist auf dem Festland ja kaum noch wirklich möglich ;-). Hattest du es dir so vorgestellt?

    Aber toll, dass du alles bisher irgendwie gemeistert hast. Und irgendwie bin ich ehrlich gesagt ganz froh, dass all die Dinge jetzt schon passiert sind und du Lösungen gefunden hast. Besonders, was den Motor angeht, bin ich sehr erleichtert, dass der Fehler behoben ist. Und ja, ich weiß, das heißt nicht, dass nicht immer noch was neues, unvorhergesehenes passieren kann. Ich bin bereit für weitere Abenteuer.

    Ich habe meinen Flug nach Bristol gebucht. Wohin ich von da aus fahren soll, kannst du mir ja dann noch sagen ;-). Bin gespannt, wo du am 08.06. sein wirst. Aber Schleusen werden deinen Weg jetzt bestimmt nicht mehr behindern.

    Weiterhin Mast und Schotbruch (ups, letzteres hattest du ja schon…!)

    herzliche Grüße,

    Doro

    Tel mobil: +49 (0) 173 9407632

    E-Mail: d.engels@netcologne.de

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  2. Hallo Ulrich, du bis unser Held der Meere. Trotz kleinerer und größerer Herausforderungen (schon beim Lesen ist es stressig) hast du’s nach England geschafft. Wir sind begeistert! Und ganz nebenbei gibt noch tolle Gerichte an Bord und du schreibst einen druckreifen Blog. Wir erstarren in Ehrfurcht. Pass weiter gut auf dich auf! Ist England eigentlich gefährlich? Gibt es dort jetzt Kannibalen? Liebe Grüße Paola und Thomas

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  3. Lieber Ulrich, Du bist ein Held!
    Wir bibbern und lachen zugleich, wenn wir Deinen Blog lesen. Du hast ganz offensichtlich Deine literarische Gattung gefunden. Und wahrscheinlich, neben vielen Lösungen für all die kleinen, mittleren und großen Probleme, die Dir wiederfahren, noch viel mehr …
    Weiter viel Erfolg und immer mehr Lösungen und Hilfe als Nöte!
    Herzlich, Petra und Martina

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  4. Montag, 23.7.2022, Agrigent, Sizilien
    Wir haben schallend gelacht, uns sitzt aber trotzdem noch die Angst um dich im Nacken.
    Wer so offen über seine Fehler berichten kann, zeigt wahre Größe.
    Verena und Hartwig

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  5. Die Ulissee

    Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
    welcher so weit geirrt  nach des heimischen Herdes Verlassen,
    Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat.
     
    Aber uns kränkt in der Seele des weisen Helden Ulisseus Elend, welcher so lang, entfernt von den Seinen, sich abhärmt
    Auf seinem stolzen Schiff in der Mitte des wogenden Meeres.
     
    Es jammert seiner die Götter;
    Nur Poseidon zürnte dem göttergleichen Ulisseus
    Unablässig, bevor er sein Kölle wieder erreichte.
    Poseidon verfolgt ihn, der Erdumgürter, mit wilden tobenden Wellen.
     
    Aber wir haben uns alle zum Rat vereint, die Heimkehr dieses Verfolgten zu fördern; und Poseidaon entsage seinem Zorn:
    denn nichts vermag er doch wider uns alle!
    So ist denn dieses im Rate der Freunde  beschlossen:
     
    Dass nach Kölle sicher er heimkehre , der weise Ulisseus ,
    der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnt.
     
     Auf die Heimkehr des wagemutigen Ulisseus zu seiner klugen Paulope, seinen Töchtern und seinen Gefährt*innen freuen wir uns und wünschen wir Dir bis dahin , lieber Ulrich, eine wunderbare Reise!

    Gemütlich auf dem Sofa sitzend, stockt uns manchmal der Atem bei Deinem spannenden Bericht!
     
    Herzlichst, Eduard und Karen

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